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Marcel Pfüller
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Daniel Weitekamp, Mitarbeiter in einer Behinderten-Werkstatt

Ausbeutung in Behindertenwerkstätten?

Daniel Weitekamp

Daniel, 33, Stundenlohn 1,25 Euro


Etwa 300.000 Menschen arbeiten bundesweit in einer sogenannten Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Einer von ihnen ist Daniel Weitekamp aus Salzkotten. Er mag seine Arbeit sehr gerne – allerdings nicht sein Gehalt. Sein Monatslohn: 175 Euro.

Auf dieser Seite wollen wir euch erklären, wie sich sein Lohn zusammensetzt, was die Politik zu diesem Thema sagt und was die Kritikpunkte sind. Immer wieder findet ihr auf dieser Seite auch Zitate aus einer vom Bundesarbeitsministerium in Auftrag gegebenen Studie zu diesem Thema, die im September 2023 veröffentlicht wurde. Diese heißt offiziell Forschungsbericht 626.
 

„90% der Beschäftigten beziehen ein Entgelt von bis zu einer Höhe von maximal 324 Euro pro Monat. 49% der Beschäftigten bezogen weniger als 150 Euro pro Monat.“ (Forschungsbericht 626)


Daniel Weitekamp mit seinen Eltern

Daniel Weitekamp mit seinen Eltern Hubertus und Regine


Seit 2009 ist Daniel Weitekamp bei einem Träger einer Behinderten-Werkstatt beschäftigt. Seitdem versucht auch sein Vater, Hubertus Weitekamp, das ganze System zu verstehen. Im Radio Hochstift-Gespräch sagt er:
 

„Die Wenigsten kennen sich mit den Zahlen aus. Auch wenn ich Politiker gefragt habe, bin ich oft auf große Unwissenheit gestoßen. […] Ich würde einen Lohn gerechtfertigt halten, der ungefähr im Bereich des Mindestlohns liegt. […] Man macht sich schon den Kopf darüber: was kann mein Sohn eigentlich dafür, dass er so wenig bekommt. Oder sind die Behinderten der Gesellschaft so wenig wert?“


„Sehr deutlich kritisieren viele Befragte das viel zu niedrige Entgeltniveau für ihre geleistete Arbeit, mit dem sie nicht einverstanden sind. Gewünscht und gefordert wird eine klare, deutliche Erhöhung des derzeit geltenden Entgelts, teilweise auf Mindestlohnniveau, teilweise auch darunter – sofern die Anhebung jedenfalls so hoch ausfällt, dass Anerkennung und Wertschätzung ihrer Arbeit daraus erkennbar werden.“ (Forschungsbericht 626)


Das komplexe Entgeltsystem

Der Lohn der sogenannten WfbM-Beschäftigten setzt sich aus drei Komponenten zusammen:

  • Grundbetrag: aktuell 126 Euro (nicht variabel)
  • steuerfinanziertes Arbeitsförderungsgeld: aktuell 52 Euro (nicht variabel)
  • Steigerungsbetrag: bundesweiter Durchschnitt 2021: 79 Euro (variabel, wird aus dem Arbeitsergebnis der Werkstatt gezahlt)
     
Lohnabrechnung Behinderten-Werkstatt


Daniel Weitekamp aus Salzkotten erhält also 126 Euro Grundbetrag, dazu 52 Euro Arbeitsförderung. Hinzu kommt der Steigerungsbetrag, den der Träger der jeweiligen Werkstatt selbst festlegt. Der Betrag errechnet sich aus dem Arbeitsergebnis der Werkstatt. Daniel Weitekamp erhält aktuell einen Euro Steigerungsbetrag – pro Monat. Das Problem: Für Außenstehende bleibt unklar, wie die Träger diesen Betrag genau berechnen. Ihre eigenen Arbeitsergebnisse verraten sie nur ungern.
 

„43% der Beschäftigten beziehen neben dem Werkstatt-Entgelt eine Erwerbsminderungsrente, 35% der Beschäftigten Leistungen der Grundsicherung und 7% beide Leistungen.“ (Forschungsbericht 626)

Auch Daniel Weitekamp bezieht Grundsicherung. Diese beträgt 755 Euro pro Monat. Insgesamt erhält er also aktuell 930 Euro pro Monat.

Grundsicherung

Der geringe Lohn hat auch andere Folgen. Im Sommer 2023 wird Daniel Weitekamp wegen einer schwierigen Operation für längere Zeit krankgeschrieben. Das Krankengeld richtet sich, wie bei jedem Arbeitnehmer, nach dem vorherigen Bruttoeinkommen. In dieser Zeit erhält der 33-Jährige aus Salzkotten exakt 4,18 Euro pro Tag.

Abrechnung Krankengeld – Werkstatt für Menschen mit Behinderung

Werkstätten für Menschen mit Behinderungen im Hochstift

Der größte Träger der Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) im Hochstift sind die Caritas Wohn- und Werkstätten. Nach eigenen Angaben arbeiten 1.700 Menschen in den zehn Werkstatt-Standorten in Paderborn, Paderborn-Schloß Neuhaus, Bad Wünnenberg-Haaren, Büren und Warburg.

Werkstätten für behinderte Menschen / Caritas Schild
Die WfbM in Paderborn-Schloß Neuhaus

Ein weiterer Träger ist die Lebenshilfe Höxter, die Werkstätten in Höxter-Ottbergen und Brakel (Rekon) betreibt. In den Werkstätten Am Grünenberg in Höxter arbeiten aktuell etwa 350 Menschen – in Brakel sind es etwa 150.

Knapp 400 Menschen mit Behinderungen sind außerdem in der WfbM beim Unternehmen Integ in Bad Driburg beschäftigt.
 

„88% der Befragten geben an, mit ihrer Arbeit zufrieden oder sehr zufrieden zu sein.“ (Forschungsbericht 626)


Burkhard Blienert: „Ich war erschrocken!“

Der Delbrücker Burkhard Blienert saß für die SPD von 2013 bis 2017 im Bundestag. Seit Januar 2022 ist der 57-Jährige Beauftragter für Sucht- und Drogenfragen und damit Teil der Bundesregierung. Im Interview mit Radio Hochstift hat er zum Thema der Löhne in den WfbM Stellung genommen.
 

Burkhard Blienert


Radio Hochstift: Was haben Sie gedacht als Sie erstmals erfahren haben, welche Löhne in den WfbM gezahlt werden?
Blienert: „Ich war genauso erschrocken. Das Durchschnittsgehalt, wenn man überhaupt davon reden darf, liegt bei 212 Euro im Monat. Das hat mich unwahrscheinlich betroffen gemacht. Die Menschen arbeiten, sie setzen sich ein, sind mit großem Einsatz in den Werkstätten dabei. Und dann kommt am Ende des Monats 212 Euro raus.“

RH: Was wäre aus Ihrer Sicht ein gerechter und realistischer Lohn?
Blienert: Es kann nicht immer nur die Addition von Sozialleistungen wie zum Beispiel der Grundsicherung sein. Es muss sich auch im Entgelt, im Lohn widerspiegeln. Und das muss mehr sein als die 212 Euro im Monat. Deshalb – das Orientierende: Mehr als Mindestlohn.

RH: Warum hat die Politik nicht längst gehandelt?
Blienert: Ich kann die Sichtweise ‚Man hätte schon längst anpacken müssen‘ sehr gut verstehen. Trotzdem setze ich mich auch in meinen Bereichen, die ich verantworte, dafür ein, jetzt den Anfang zu machen und loszumarschieren. Im Vergleich zu den anderen Legislaturperioden gibt es jetzt Vereinbarungen im Koalitionsvertrag. Es gibt den klaren Auftrag, die Situation insgesamt anzupacken.
 

„Alle Mindestlohnmodelle sind auf Subventionen aus Steuermitteln angewiesen. Diese sind nicht als reine Zusatzkosten zu kalkulieren, sondern eingesparte Grundsicherungsleistungen sind gegenzurechnen.“ (Forschungsbericht 626)


Wer lässt in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen produzieren?


In den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen im Hochstift werden unterschiedlichste Arbeiten erledigt. Mal sind es Montagearbeiten, mal Dienstleistungen aller Art und mal Aufträge aus der Verpackungsindustrie. Zum Teil arbeiten die Beschäftigten aus den WfbM auch auf externen Arbeitsplätzen, z.B. im Garten- und Landschaftsbau oder im Housekeeping eines Hotels.

Für Außenstehende bleibt aber teils undurchsichtig, welche Unternehmen zu welchen Konditionen konkret in den Werkstätten produzieren lassen. Namen werden von den Trägern der Werkstätten nur ungern genannt. Ein Vertreter der Lebenshilfe Höxter erklärt im Radio Hochstift-Gespräch zumindest, dass "alle größeren Unternehmen aus dem Kreis Höxter bei uns produzieren lassen".


Schon seit Jahren beschäftigt sich auch der Youtuber Lukas Krämer mit der Ausbeutung von Menschen mit Behinderungen. Unter #StelltUnsEin veröffentlichte er im Februar 2022 ein Video, indem auch er den Mindestlohn für Beschäftigte in Behinderten-Werkstätten fordert.
 


Eine Online-Petition mit gleichnamigen Titel wurde bis heute mehr als 200.000 mal unterschrieben.

Der Verein Werkstatträte Deutschland (Zusammenschluss der Landesarbeitsgemeinschaften der Werkstatträte) entgegnet wiederum. dass die Forderung eines Mindestlohns zu kurz greife. Stattdessen solle es ein sogenanntes Basisgeld geben. Hierzu veröffentlicht der Verein eine ausführliche Stellungnahme.

Im Sommer 2022 wird im Netz (insbesondere auf X) außerdem unter dem Hashtag Ihr Beutet uns aus diskutiert. Auch hier geht es um die Löhne in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen.


Die Kritik an der Kritik

Immer wieder gibt es Kritik an den Werkstätten für behinderte Menschen. Immer wieder wird diese aber auch zurückgewiesen. So reagiert beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen auf den Ausbeutungsvorwurf so:
 

„Von Ausbeutung kann nicht die Rede sein. Werkstätten müssen Erträge, die sie über Produktionsaufträge erwirtschaften, an die Beschäftigten ausschütten: mindestens 70 Prozent unmittelbar, der Rest kann in Rücklagen gehen, die aber letztlich wiederum den Beschäftigten zugutekommen müssen. Werkstätten sind Non-Profit-Organisationen und arbeiten nicht gewinnorientiert.

Im Übrigen ist das in Werkstätten garantierte Recht auf Teilhabe an Arbeit eine Errungenschaft, die es weltweit nur in wenigen anderen Ländern gibt. Die Ausübung dieses Rechtes, also der Besuch der Werkstatt, ist dabei freiwillig.“


Ausführlich haben wir auch mit der Geschäftsführerin der Caritas Wohn- und Werkstätten (CWW), Karla Bredenbals, gesprochen. Auch sie spricht in Bezug auf die Werkstätten von einem "komplexen System". Sie sagt aber auch mit Nachdruck "Ich wünsche mir so sehr eine richtige Reform des Werkstatt-Systems." Unter anderem sei eine Vereinfachung des Systems für die Menschen mit Behinderungen dringend notwendig. Es könne nicht sein, dass diese immer und immer wieder bei Ämtern Papiere vorlegen müssten. Und sie sagt auch: "Es ist schwierig in einem System zu arbeiten, in dem man sich ständig rechtfertigen muss." Aus ihrer Sicht haben die sogenannten Behinderten-Werkstätten in der öffentlichen Meinung mehrheitlich ein oft negatives Image.

"Mindestlohn müsste subventioniert werden"

In Bezug auf einen möglichen Mindestlohn für die Beschäftigten fordert die Geschäftsführerin eine Subventionierung durch die öffentliche Hand - die Träger könnten dies alleine nicht leisten. Schon jetzt würden viele Werkstätten rote Zahlen schreiben. Dies liege unter anderem auch an der gesamtwirtschaftlichen Situation, die sich zuletzt eher negativ entwickelt habe. "Da hängen wir immer mit dran", so Bredenbals im Radio Hochstift-Gespräch. Zum Beispiel hätten die Werkstätten der CWW früher viele Aufträge zur Serien-Produktion erhalten. Dies habe Planungssicherheit gegeben. Mittlerweile seien es immer mehr Projekt-Aufträge, also Arbeiten, die die Werkstätten nicht durchgehend beschäftigen würden. Erfreulich sei hingegen, dass der Bereich Dienstleistungen (wie erhofft) im Aufschwung sei.

Die CWW zahlen den Menschen mit Behinderungen, laut Bredenbals, trotzdem noch ein kleines Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Sie bestätigt aber auch, dass die letzte Erhöhung des Grundbetrags im Jahr 2023 erstmals nicht mehr an die Beschäftigten weitergegeben werden konnte. So wurde der Grundbetrag erhöht, der Leistungsbetrag aber gekürzt. Erklärungen zum komplexen Lohnsystem findet ihr weiter oben auf dieser Seite. 


Eure Rückmeldungen

Anrufe, Social Media-Nachrichten und Mails: Über alle Kanäle habt ihr uns Rückmeldungen zu diesem Thema gegeben - das freut uns sehr. Hier eine kleine Auswahl:

"Ich finde es klasse, dass ihr in eurem Bericht Behinderte und ihren Platz in der Gesellschaft hervorhebt - im Speziellen die Ungerechtigkeiten unter dem Deckmantel der Integration. Ich selbst habe einen schwerbehinderten Cousin. DANKE, dass ihr ihnen eine Plattform bzw. Stimme gebt!" (Luisa S., Paderborn)

"Dass es so wenig Gehalt ist, hätte ich niemals gedacht!" (Susanne A., Paderborn)

"Viele haben sich darüber gefreut, wo sie den Beitrag heute im Radio auf der Arbeit gehört haben.
Endlich mal einer der den Mut hat Farbe zu bekennen! Und sagt wie es ist.
Dass sich was ändern muss in unserem System!" (Anonym - Name der Redaktion bekannt)

"Ist das heftig! Das macht einen fassungslos, wütend und traurig zugleich!" (Christoph Z., Paderborn)

"Ich verfolge mit Interesse euer Thema. Einer meiner Söhne ist schwerbehindert und arbeitet in einer Werkstatt. Die ganze Finanzierung der Behindertenbetreuung im Erwachsenenalter ist sehr komplex und durch das neue Teilhabgesetz noch komplizierter geworden. Leidtragende sind am Ende dann doch wieder die Betroffenen. Alles sehr traurig. Es müsste mal gründlich aufgeräumt werden in diesem Bereich." (Manuela)

"Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sind keine Erwerbsbetriebe, sondern Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation zur Teilhabe am Arbeitsleben und beruflichen Bildung.  Wenn ein Mensch mit Behinderung dazu in der Lage ist, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine gleichwertige Leistung zu erbringen, dann verlässt er die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen und verdient in meinen Augen auch einen Mindestlohn, für den andere Menschen ohne (oder z.T. auch mit) Erkrankungen sehr harte Arbeit leisten." (Anonym)

"Ich finde es sehr gut, dass wir Werkstatt Beschäftigten Lohn Erhöhung bekommen. Ich selber arbeite in einer Werkstatt." (Florian C., Büren)

"Danke fürs Thematisieren. Bin jetzt schon hier über den Chat auch mit Leuten ins Gespräch gekommen! Das ist schon so viel Wert auch wenn das nicht unmittelbar zu einer Veränderung führt!" (Johanna M., Paderborn)

"Ich finde Euer Thema in der Darstellung leider sehr unausgewogen und zu reißerisch. Viele Faktoren sind zu berücksichtigen. Ich hätte mir gewünscht, dass Ihr die Hintergründe für die Entlohnung bringen würdet. Es gibt einen großen Apparat, der im Hintergrund läuft: z.B. Wohnungs und Betreuungskosten, soziale Dienste für die Unterstützung und Fahrdienst." (Martin W., Paderborn)

"Wir bedanken uns beim gesamten Team für die Berichterstattung. Wir haben Reaktionen aus ganz Deutschland erhalten. Auch die von Ihnen veröffentlichten Kommentare zeigen noch Unwissenheit. Personal- und Sachkosten werden noch mit dem Entgelten in Verbindung gebracht. Sie werden aber zu 100% refinanziert." (Familie Weitekamp, Salzkotten)

"Genau diese Menschen sollten genauso wie Normalos bezahlt werden. Ich bin mega geschockt über solche Löhne von 1,50 in der Stunde. Da sieht man wieder wie Menschen mit Handicap diskriminiert werden." (Melanie P.)


So klang die Berichterstattung zu diesem Thema on Air:

 


Die Geschichte hinter der Geschichte
Basis dieser Recherche ist erneut ein anonymer Hinweis, der uns im Jahr 2023 erreicht. Der Hinweisgeber weist uns auf die (aus seiner Sicht) Ungerechtigkeiten in den WfbM hin.

Ihr wollt uns auch auf einen Missstand im Hochstift hinweisen? Sehr gerne. Nutzt dafür bitte unser Formular für Anonyme Hinweise auf unserer Homepage.

Fragen/Feedback zu dieser Recherche/Geschichte gerne an Tobias Fenneker.