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Stephan Kaiser
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Fakenews-aus-PB

Fakenews: Aus Paderborn in die ganze Welt

Es ist die Geschichte von Oksana B. aus Paderborn. Es ist aber auch die Geschichte von Fakenews, Desinformationen und Propaganda, die um die ganze Welt gehen. Nach wochenlanger Recherche erzählen wir die Hintergründe. Wir stellen den Behauptungen Fakten gegenüber.

Die Vorgeschichte: Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine fliehen Millionen Menschen aus der Ukraine. Unter ihnen ist auch Oksana B. mit ihrem Sohn S.
Oksana B. kommt aus Irpin, einer Stadt, die gut 25 Kilometer von Kiew entfernt liegt. Nach einer Flucht durch mehrere Städte landet sie schließlich in Paderborn. Eine Vermieterin erfährt über eine Bekannte von der Frau und ihrem Sohn. In ihrem Haus in der Paderborner Innenstadt ist zu dem Zeitpunkt eine Wohnung frei – Oksana B. und ihr zehnjähriger Sohn können einziehen.

Ansicht eines Wohnhauses in Paderborn

Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand weiß: Oksana B. leidet möglicherweise am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Diese Vermutung wird durch einen Arzt bekräftigt, der einen entsprechenden Hinweis an das Jugendamt der Stadt Paderborn gibt.

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom

„Das Münchhausen-Stellvertreter-(by-proxy-)Syndrom ist klinisch dadurch gekennzeichnet, dass die betreuende Person Krankheitssymptome bei einem Kind provoziert, die einen Kontakt zum Arzt rechtfertigen.“ (Quelle: National Library of Medicine)

Die überwiegend weiblichen TäterInnen sind oft die leiblichen Mütter. Während der (selbst verursachten und oft unnötigen) Behandlungen ihrer Kinder übernehmen sie selbst die Rolle eines scheinbar liebe- und aufopferungsvoll Pflegenden, um Anerkennung zu erhalten.

Erst im Januar dieses Jahres wurde eine Frau aus Büren, die ebenfalls am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidet, vom Paderborner Landgericht verurteilt.

Laut Oksana B. leidet ihr Sohn S. an schwerwiegenden Magenproblemen. Dies äußert sie auch in Whatsapp-Nachrichten, die sie einem Flüchtlingshelfer aus Paderborn schickte und die Radio Hochstift vorliegen:

Die Ukrainerin sucht immer wieder Kinderärzte und die Paderborner Kinderklinik auf, fordert immer weitere Untersuchungen.

Nach Radio Hochstift-Infos lässt sie ihren Sohn auch mehrfach mit dem Notarzt abholen. Die Ärzte kommen aber übereinstimmend zum Ergebnis: Ihr Sohn ist gesund. Die Situation spitzt sich weiter zu – auch das Jugendamt der Stadt Paderborn erfährt von Oksana B. und ihrem Sohn.

Am 09.01.2023 erfolgt eine sogenannte Inobhutnahme. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes befürchten aufgrund der mutmaßlichen Krankheit von Oksana B. andernfalls eine Kindeswohlgefährdung. Statt um 22 Uhr abends, wie von der Ukrainerin behauptet, erfolgt die Inobhutnahme nach Radio Hochstift-Infos gegen etwa 19 Uhr. Die Tür der Paderborner Wohnung von Oksana B. wird (mit Unterstützung von Polizei und Feuerwehr) aufgebrochen, weil sie trotz Ankündigung nicht öffnet.

 


Petra Erger, Leiterin des Jugendamtes der Stadt Paderborn

"Eine Inobhutnahme ist immer das letzte Mittel. Das ist immer eine Maßnahme, bei der eine akute Gefährdungssituation für das Kind gegeben sein muss, beispielsweise sexueller Missbrauch oder akute Vernachlässigung.“

Petra Erger, Leiterin des Jugendamtes der Stadt Paderborn

Inobhutnahmen in der Stadt Paderborn

130 Inobhutnahmen gab es im Paderborner Stadtgebiet im Jahr 2022. Im Vergleich zu den letzten Jahren ist die Zahl relativ konstant – im Vergleich zu früheren Jahrzehnten hat sie sich allerdings mehr als verdoppelt.

Auch die Anzahl der Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung hat sich deutlich erhöht: 2022 gingen beim Jugendamt der Stadt Paderborn 600 Hinweise ein – so viele wie noch nie.


Medial nimmt die Geschichte Fahrt auf, als am 28.01.2023 dieses Youtube-Video veröffentlicht wird:

Oksana B. erzählt dem ukrainischen Journalisten Jean Novoseltsev ihre Sichtweise der Geschichte. Wie sie flüchtete, wie ihr Sohn krank wurde, wie sie Ärzte aufsuchte und niemand helfen konnte. Und wie das Paderborner Jugendamt ihr den Sohn klaute. Das fast zweistündige Video erreicht riesige Reichweiten. Mehr als 400.000 mal wird es angeklickt, mehr als 15.000 Mal kommentiert (Stand Juni 2023).


Durch das Video ist die Geschichte im Netz nicht mehr einzufangen. Es beginnt eine Spirale der falschen Nachrichten. Plötzlich ist vom angeblichen Kinder-Klau in Paderborn weltweit zu lesen. Zum Beispiel auf der undurchsichtigen Seite des Portals World’s News Now (registriert in London, GB), die wiederum auf den „Original-Artikel“ eines russischen Verlags verweist, dessen Sitz in Moskau ist.

 

Im Artikel werden mehrere Beispiele angeblich „gestohlener Kinder“ ukrainischer Geflüchteter genannt. Immer sollen sich die Vorfälle in westeuropäischen Staaten abgespielt haben.


Es sind aber nicht nur russische Medien, die die Geschichte als Propaganda-Mittel nutzen. Auch hochrangige russische Politikerinnen und Politiker bedienen weiter das Narrativ des Westens als Ort für Familien-Experimente.

So wird die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, im März 2023 so zitiert: Kinder, „die sich nach der ‚Evakuierung‘ aus der Ukraine in Europa wiederfinden, sind regelmäßig mit Problemen der Marginalisierung in ihren verschiedenen Erscheinungsformen bis hin zu sexuellem Missbrauch und Sexhandel konfrontiert“.

Und auch Dmitry Polyanskiy, stellvertretender ständiger Vertreter Russlands bei den Vereinten Nationen, äußert sich öffentlich: Unter #EuropeStealsChildren twittert er in Kurzform die Geschichte von Oksana B. aus Paderborn und veröffentlicht eine Mailadresse, über die es möglich sei, mit Oksana B. in Kontakt zu treten und ihr so helfen zu können. Besonders dreist: In seinem Twitter-Profil gibt er selbst an, „Lügen und Falschnachrichten zu hassen“.

 


„Wir haben überhaupt kein Interesse daran, Kinder aus einer Familie zu entfernen. Ganz im Gegenteil: Wir wollen das Zusammenleben wieder ermöglichen. So, dass es allen gut geht damit.“

(Petra Erger, Leiterin des Jugendamtes der Stadt Paderborn)


Die Recherche einer bulgarischen Journalistin

Die bulgarische Journalistin Vassilena Dotkova

Die bulgarische Journalistin Vassilena Dotkova hat ebenfalls zu diesem Thema recherchiert und einen Artikel auf der Homepage der bulgarischen Initiative factcheck.bg veröffentlicht. Dort erklärt sie unter anderem:
 

„This is not the first time Russian media have spread the message that Ukrainian refugees’ children are being taken away from their parents in Western Europe. The theme is part of the larger Russian narrative of the West as enemy of the family and traditional values.“

(Vassilena Dotkova, bulgarische Journalistin)


Radio Hochstift hat die 48-jährige Investigativ-Journalistin exklusiv ein Interview gegeben. Die Original-Antworten (englisch) haben wir ins Deutsche übersetzt.

Radio Hochstift: Wie haben Sie als bulgarische Journalistin von der Geschichte um Oksana B. aus Paderborn erfahren?
Die Geschichte von Frau B. erschien auf einigen bulgarischen Webseiten im März dieses Jahres. In den Artikeln wurden drei Fälle ukrainischer Geflüchteter in Deutschland beschrieben. Übereinstimmend sind es Fälle, in denen Eltern Kindern weggenommen wurden – von deutschen Behörden. Diese Geschichten werden als Beweis dargestellt, dass Kinderschutzdienste in Europa gezielt Kinder aus Familien ukrainischer Geflüchteter nehmen.  

RH: Was steckt hinter den Statements russischer PolitikerInnen, die Fakenews über die Erlebnisse ukrainischer Geflüchteter in Deutschland und Westeuropa verbreiten?
Die Geschichte, wie Sozialarbeiter in Europa ohne wesentliche Gründe einfach deine Kinder wegnehmen können, ist eine Erzählung, die wir in Bulgarien sehr gut kennen. Die russische Propaganda nutzt sie bereits seit einem Jahrzehnt. Sie wollen den Westen gezielt als Feind der traditionellen Familie darstellen. In diesem Fall erschienen die Artikel (des angeblichen Kinder-Klaus im Westen) im März – direkt nachdem der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Putin erließ – wegen der mutmaßlichen Deportation und Umsiedlung ukrainischer Kinder nach Russland.

RH: Mittlerweile ist diese Geschichte auf unzähligen Seiten im Internet zu finden. Wie funktioniert das genau?
Diese Geschichten wird so oft geteilt, weil sie emotionale Reaktionen provoziert. Außerdem sind die Fakten kaum zu überprüfen, weil es kaum öffentliche Informationen über die Fälle gibt. Das bedeutet: Wir können nie überprüfen, ob die beschriebenen Details jedes einzelnen Falls richtig oder falsch sind. Wir haben herausgefunden, dass die Geschichten aus pro-russischen Quellen stammen. Es wirkt wie orchestriert, schließlich gab es sehr ähnliche Kampagnen in der Vergangenheit. Wir können aber auch sehen, dass sie von Webseiten verbreitet werden, die ihren Profit mit Werbung machen und die deshalb immer neue Leser gewinnen wollen.


Kontakt zu Oksana B.

Unser erster Versuch der persönlichen Kontaktaufnahme Anfang Mai 2023 scheitert. Auch uns öffnet sie nicht die Tür. Als wir ihr einen Brief mit der Bitte um Kontaktaufnahme zukommen lassen, melden sich allerdings gleich mehrere Leute. Zuerst schreibt uns Herr D. eine Mail. Er gibt an, von Oksana B. über unsere Anfrage informiert worden zu sein. Oksana B. habe ihm eine „Vollmacht gegeben“. D. schreibt von den „Schergen des Jugendamtes“ und von einem „weiteren abenteuerlichen Fall“. Außerdem sei auch sein Sohn in der Vergangenheit monatelang in einem Kinderheim untergebracht worden – ohne Anwälte habe sich D. das alleinige Sorgerecht zurückerstritten.

Kurz darauf meldet sich Oksana B. dann doch persönlich – per Mail. Sie gibt sich betont dankbar für unser Interesse. Anschließend bezeichnet sie sich als „Opfer des Deutschen Jugendstrafrechts“, schreibt von der „Demütigung und Misshandlung meines Sohnes im Heim seit vier Monaten“ und einem „Gewirr aus völliger Gesetzlosigkeit und satanischer Grausamkeit uns gegenüber“. Eine Mail mit vielen Nachfragen unsererseits lässt sie anschließend unbeantwortet.

Und noch eine Mail erreicht uns: Herr M. schreibt uns. Er gibt an, Schweizer zu sein, in Belgien zu leben und der „biologische Vater von S.“ zu sein. Auch er tritt uns gegenüber sehr höflich auf. Laut dem Schweizer gibt es allerdings nur zwei „denkbare Szenarien“: Entweder gebe das Oberlandesgericht Hamm „seinen Fehler (die Inobhutnahme) zu“ und S. könne, zusammen mit Oksana B., „nach Belgien kommen, um ein neues Leben aufzubauen“. Oder: „Die deutsche Regierung will das Land weiter neu bevölkern und bedient sich dabei obskuren und illegalsten Techniken: Lügen, Manipulation, falsche Angaben, Einschüchterung. Dieselben faschistischen Techniken aus dem Jahr 1930 scheinen „aktualisiert“ und wieder im Einsatz zu sein.“ Auch er reagiert auf Nachfragen unsererseits nicht mehr.


Der Prozess am Oberlandesgericht Hamm

Eine Inobhutnahme bzw. die Übertragung der elterlichen Sorge muss durch ein Gericht bestätigt werden – es sei denn, die Eltern geben ihr Einverständnis. In diesem Fall ist das Familiengericht (angesiedelt beim Amtsgericht) Paderborn zuständig, das am 25.01.2023 die einstweilige Anordnung erlässt, "dass der Mutter unter anderem das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitsfürsorge als Teil der elterlichen Sorge entzogen und dem insoweit zum Ergänzungspfleger bestellten Jugendamt übertragen werden".

Ansicht des Landgerichts Paderborn

Oksana B. geht in die nächste Instanz, so dass der Fall auf dem Tisch des Oberlandesgerichtes Hamm landet. Dort gibt es am 08.05.2023 einen Anhörungstermin mit allen Beteiligten. Nach Radio Hochstift-Infos ist mit Maksym Onyshchenko auch der Vizekonsul des Generalkonsulats der Ukraine in Düsseldorf bei dem Termin vor Ort.

Am 22.05.2023 entscheidet das Oberlandesgericht Hamm, dass „familiengerichtliche Maßnahmen derzeit nicht erforderlich seien“. Zwar sei "das Verhalten der Mutter, das das Jugendamt zum Einschreiten bewegt habe, der Gesundheit des Kindes abträglich gewesen. Es könne jedoch dahin stehen, ob die einstweilige Anordnung bei ihrem Erlass gerechtfertigt gewesen sei. Die Voraussetzungen für einen Eingriff in das Sorgerecht der Mutter im Wege einer einstweiligen Anordnung seien nämlich jedenfalls jetzt nicht (mehr) gegeben."

S. darf also zurück zu seiner Mutter. Oksana B. muss aber zusichern, dass sie eine Therapie mit ihrem Sohn beginnt. Weiter heißt es: "Die Mutter müsse allerdings damit rechnen, dass neuerliche familiengerichtliche Maßnahmen – auch unterhalb der Schwelle eines Sorgerechtsentzugs – erforderlich werden könnten, wenn sie einen regelmäßigen Schulbesuch und die erforderliche therapeutische Anbindung des Kindes auch in Zukunft nicht sicherstellen könne."

Eine entsprechende Einordnung dieser Entwicklung ist weder bei den zuvor berichtenden Medien, noch bei den russischen Politikerinnen und Politikern zu finden, die ebenfalls zuvor über den Paderborner Fall berichteten.


So klang die Berichterstattung zu diesem Thema on air:


Die Geschichte hinter der Geschichte

Auch diese Recherche ist Folge eines anonymen Hinweises, der über unser extra eingerichtetes Formular einging. Meldet euch gerne, wenn ihr ebenfalls auf einen Missstand im Hochstift hinweisen möchtet. 

Fragen/Feedback zu dieser Recherche/Geschichte gerne an Tobias Fenneker.