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Leo Arrighy
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Verschickungskinder aus dem Hochstift

Hinweis: Die nachfolgenden Zeilen können emotional belastend sein. Einen Kontakt, um sich mit weiteren Verschickungskindern aus dem Hochstift und ganz NRW austauschen zu können, findet ihr am Ende dieser Seite.

Jahrzehntelang wurde das Thema der sogenannten Verschickungskinder totgeschwiegen. Dabei sind, nach Schätzungen, bundesweit acht bis zwölf Millionen Kinder und Jugendliche zwischen 1950 und 1990 zu meist sechswöchigen Kuren in die ganze Republik verschickt worden. In den Kurhäusern wurde oft noch schwarze Pädagogik angewandt: Kinder mussten Erbrochenes essen, durften nachts nicht auf die Toilette und wurden teilweise geschlagen.


Christines Geschichte...

Auch aus dem Hochstift melden sich jetzt die ersten Betroffenen. Zum Beispiel hat uns Christine aus Delbrück-Ostenland ihre Geschichte erzählt. Die heute 72-Jährige wurde 1956 für sechs Wochen zur Kur nach Niendorf an der Ostsee verschickt.

„Ich hatte Angst. Ich war eh immer ein schüchternes Kind. Das war alles komisch.“

„Ich kann mich an den Essraum erinnern. Wir mussten alles essen, egal, ob es wieder herauskam, oder nicht. Ich selbst musste nicht brechen aber neben mir saß eine, die hat es zweimal ausgebrochen und musste das Ganze dann wieder essen.“

„Wir durften nicht auf die Toilette, wenn wir im Bett waren. Egal, wie wir geweint haben. Immer, wenn etwas nicht darf, hat man den Drang, dass man muss.“

„Unsere Briefe wurden zensiert. Jeder Fehler, den wir machten, wurde rot angestrichen und wurde dann verschickt. Wenn man etwas schrieb, was man nicht schreiben sollte, gingen die erst gar nicht raus.“

„Als ich wieder nach Hause kam, habe ich nicht mehr gesprochen. Ich habe einfach nicht mehr gesprochen. Ich habe sogar ins Familien-Stammbuch geschaut, weil ich dachte, ich sei kein leibliches Kind. Ich habe gedacht: Ein eigenes Kind kann man nicht für so lange Zeit wegschicken.“


Annas Geschichte...

Auch Anna hat uns erzählt, was sie erlebt hat. Sie wurde 1978, ebenfalls mit acht Jahren, in ein Waldhaus im Taunus im Saarland verschickt. Damals lebte sie in Paderborn. Ihre Erlebnisse hat sie selbst aufgeschrieben, sie wurden von uns nicht verändert. Weiter unten findet ihr ihre Geschichte auch als Audio, gesprochen von Sinah Donhauser.

 


Eure Rückmeldungen

Nach unserer Veröffentlichung haben sich unzählige, weitere Betroffene gemeldet. Mit der Erlaubnis der Betroffenen veröffentlichen wir nachfolgend (in gekürzter Form) weitere Erlebnisse, um das Schweigen zu brechen.

Jutta hat uns eine Nachricht geschrieben - sie wurde 1965 verschickt. Damals lebte sie in Delbrück, heute in Paderborn-Schloß Neuhaus. Hier ihre Schilderungen:

"Ich bin im Alter von sechs oder sieben Jahren von der Barmer Ersatzkasse nach St. Goarshausen verschickt worden. Da ging es grausig zu. Kein Toilettengang in der Mittagszeit, Erbrochenes wieder essen, Schläge bei unerlaubtem Reden. Wenn nur ein voller Teller gegessen wurde, musste man zwei Portionen Nachtisch essen, meistens Grießpudding mit harter Haut obendrauf.  Wenn die Heimleiterin schlug, konnte man den Sadismus in ihren Augen sehen. Zuhause war ich heilfroh, meine Eltern wieder zu sehen – geglaubt hat man einem aber auch nicht wirklich."

Sieglinde landete 1962 kurz hinter der Grenze des Nachbarkreises Lippe, in Rinteln. Drei Jahre später wurde sie in den Harz verschickt. Heute ist sie 66 und lebt in Hamburg.

"Auch ich habe seltsame Erinnerungen an zwei Verschickungen in meiner Kindheit. Meine Eltern meinten es offensichtlich gut. Ich war immer blass und viel zu dünn. Urlaub war ein Fremdwort. Und so wurde beim Hausarzt der Antrag gestellt und ich landete mit acht Jahren in Rinteln und mit elf nochmal mit meinem Bruder im Harz. In Rinteln gab es einen riesigen, lauten Saal und eine schleimige Hafersuppe vor jeder Mahlzeit – diese ließ mich etwas zunehmen. Mein Name wurde am Ende der Kur mitaufgerufen und alle klatschten. Das war eine angenehme Erinnerung. Dazwischen viel schlimmes Heimweh mit heimlichem, schluchzendem Weinen auf dem Klo und im Bett.

Das Heim im Harz war extremer. Keine Kontakte zu den Eltern. Meine Eltern standen einmal vor der Tür, ich sah sie durch das Fenster, sie wurden weggeschickt. Täglich wurden wir morgens in den Keller getrieben, um mit kaltem Wasserschlauch zitternd abgespritzt zu werden. Wenn zum Beispiel die Erzieherinnen Ohrfeigen verteilten, wenn man nicht leise war beim verhassten Mittagsschlaf, dann flossen die Tränen umso mehr."

Für Sabine aus dem Kreis Paderborn ging es 1984 zur "Kur":

"Ich lese gerade den Artikel zu den Verschickungskindern und bin emotional sehr aufgewühlt. Auch ich war mit sechs Jahren für sechs Wochen in Bad Kissingen zur „Kur“. Mein Bruder war erst Vier. Mir wurde eingeredet ich sei zu dick und sollte dort zum Abnehmen hin. Warum mein Bruder dort war, weiß ich nicht. Wir hatten in der gesamten Zeit Kontaktverbot zueinander.  Jeden Samstag war für mich Obsttag, während alle anderen in meiner Gruppe Spaghetti Bolognese genießen durften. Ich habe leider keine guten Erinnerungen an diese Zeit. Mit meinem Bruder habe ich nie darüber gesprochen, aber ihm wird es sicherlich genauso ergangen sein. Auch mit meinen Eltern habe ich nie über den Aufenthalt gesprochen.

Als wir nach sechs Wochen wieder zuhause waren, war ich emotional abgestumpft und von dem Tag an, die starke Person, die ich vermutlich heute bin.  Beim Schreiben kommen viele Erinnerungen und Emotionen und Erinnerungen hoch. Ich muss unbedingt mit meinem Bruder darüber sprechen. Vielen Dank, dass Sie das Thema ansprechen. Hier gibt es für mich noch einiges aufzuarbeiten."

Die Beverungerin Sabrina schreibt, was sie 1989/1990 in Bad Kissingen erlebt hat:

"Meine Eltern schickten mich ca. 1989/90 als Sechsjährige zusammen mit meinem achtjährigen Bruder nach Bad Kissingen zur Kur. Die Einrichtung war ein von Nonnen geführtes riesiges Gebäude. Mein Bruder wurde dort von mir getrennt, da er schon zu den "Größeren" gehörte. Geduscht wurde zwar geschlechtergetrennt, aber immer in Gruppen. Wir stellten uns in einer Reihe auf und dann wurden wir abgeduscht.

Leider kann ich mich nicht mehr an so viele Details erinnern, aber ich weiß, dass ich bei Ungehorsam in einen dunklen Raum gesperrt wurde, oder weil ich mich wieder eingenässt hatte. Mit meinen Eltern durfte ich die ganzen sechs Wochen nicht telefonieren. Mein Bruder, der "Größere" aber durfte dies. Meinen Eltern wurde erklärt, dass ich noch zu klein sei, es nicht verstehen und mein Heimweh sonst erweckt werden würde.

Aus meiner Erinnerung heraus kann ich nur entnehmen, dass ich die Kureinrichtung mit sehr viel Dunkelheit und Angst verbinde."

Elke, aus Paderborn-Sennelager, wurde 1975 in den Schwarzwald verschickt:

"1975 musste ich im Alter von fünf Jahren auch zur Kur, um kräftiger zu werden. Sechs Wochen Schwarzwald. Die Freude war groß, wenn auch ein bisschen unheimlich. Doch was dann kam war grausam.

20 Kinder in einem Schlafsaal. Jeden Tag gab es morgens, mittags und abends Milchreis mit Zucker und Zimt. Wenn man den nicht gegessen hat bekam man nichts anderes mehr. Als ich mich übergeben musste, musste ich mein Erbrochenes in eine Schüssel kratzen und essen. Anschließend musste ich unter die kalte Dusche. Wenn man nicht gehört hat, musste man in Unterwäsche und ohne Schuhe um das Haus laufen, egal ob Schnee lag oder es regnete. Jeden Tag wurde uns gesagt: wenn wir zu Hause was erzählen, passiert was Schlimmes. Es wurde auch geschlagen. Noch heute leide ich unter der Kur. Ich kann kein Zimt essen oder riechen. Dann kommt das Ekelgefühl wieder hoch. Alles, was mit Kälte zu tun hat, meide ich. Manches Mal werde ich nachts wach, weil ich auf die Toilette muss hab dann aber Panikattacken, weil ich denke, dass es falsch ist.

2015 war ich auf Reha im Schwarzwald, ich konnte nicht an allen Anwendungen teilnehmen, da mich einige Therapeuten und Anwendungen zu sehr in Panik brachten und die grausamen Erinnerungen wieder hochkamen."

Alexandra lebt in Lauenförde in Beverungen. Die Wochen im Schwarzwald im Jahr 1976 wird sie nie vergessen.

Ich war damals, 1976, zehn Jahre alt, mein kleiner Bruder Acht. Wir sind in Todtmoos im Schwarzwald in einem Kinderkurheim gewesen, weil wir zu dünn waren. Es gab dort Erbsensuppe und ich mochte sie nicht. Alle Kinder mussten so lange sitzen bleiben, bis sie aufgegessen hatten. Schlimmerweise musste ich mich auf meinen Teller übergeben. Ich musste trotzdem meinen Teller leer essen!

Zum Frühstück gab es Haferflocken mit Rosinen und Nüssen, dazu heißen Kakao. Wenn Kakao in den Bechern zurückblieb, wurde dieser zurück in den großen Topf geschüttet und am nächsten Morgen wieder unter den Kindern verteilt.

Mein Bruder und ich kamen nach sechs Wochen noch dünner nach Hause zurück.

Aus Paderborn-Wewer hat uns Kordula geschrieben. Sie wurde 1969 nach Oberbayern verschickt.

Ich war als Sechsjährige 1969 kurz vor den Sommerferien sechs Wochen lang in Kloster Wessobrunn bei Weilheim in Oberbayern. Ich hatte massiv Untergewicht und sollte zunehmen, damit ich nach den Sommerferien eingeschult werden konnte.

Wir haben in einem riesigen Schlafsaal mit bestimmt 20 bis 30 Kindern geschlafen. Viele hatten Heimweh, ich auch, und haben sich abends in den Schlaf geweint. Wenn die Nonnen das mitgekriegt haben, mussten wir im Schlafanzug auf den großen Flur und bei totaler Dunkelheit wenigstens eine Viertelstunde auf der Stelle stehen. Die Nonnen waren grausam, bei jeder Kleinigkeit wurden wir streng bestraft. Wurde beim Essen gesprochen, musste man in der Ecke stehen und es gab nichts mehr zu essen bis zur nächsten Mahlzeit. Der einzige Lichtblick war eine junge Betreuerin, die wenigstens versucht hat, uns freundlich zu behandeln.

Petra aus Paderborn musste 1966 mit fünf Jahren nach Bad Sassendorf.

Ich weiß noch, wie ich meine Puppe fest an meinem Körper gehalten habe, spürte ich doch, dass etwas nicht stimmte. Wir wurden hereingebeten und warteten. Es kam eine Frau dazu. Meine Puppe musste ich abgeben. Dann ging meine Mutter – wortlos.
Ich blieb sechs Wochen da. Sicher, ich war stark untergewichtig und oft krank. Aber muss man einem Kind sowas antun?
Ich musste ständig essen. Ich glaube ich habe viel Unschönes dort erlebt und mein Körper schützt sich durchs Vergessen. Was ich noch weiß: dass ich völlig verlaust nach Hause kam.

Auch aus anderen Städten Deutschlands haben wir Reaktionen erhalten - zum Beispiel von Bärbel aus Frankfurt. Auch sie ist ein sogenanntes Verschickungskind.

"Es tut einfach gut, einmal darüber sprechen zu können. Bei allen Berichten über den Missbrauch von Kindern hatte ich mich immer gefragt, warum sich denn niemand uns „Verschickungskindern annimmt."

Annette aus Paderborn wurde mehrfach verschickt - 1978 nach St. Peter-Ording, 1984 nach Wyk auf Föhr und 1989 nach Sylt. Ihre Erlebnisse:

"Ich war recht schüchtern. Als ich mich nachts gewehrt hatte, weil mir die Bettdecke durch eine Bettnachbarin weggezogen wurde, musste ich ewig in der Ecke stehen.

Frühsport bis zur Erschöpfung, wenn man adipös war.

Es gab einen Zwang zum Saunieren.

Meine Eltern wollten nur das Beste für mich. Leider war es damals eine harte Betreuungs-Pädagogik, die dahinter stand."

Sabine lebt in Bad Driburg. 1979 und 1981 wurde sie jeweils nach Norderney verschickt:

"Ich war als Kind oft krank und wurde 1979 mit sechs Jahren nach Norderney zur Kur geschickt, für zehn Wochen! Allein, ohne Eltern. Ich hatte so ein Heimweh, dass ich nächtelang geheult habe. Ich habe es meiner Mutter bis heute nicht verziehen, wie sie so etwas zulassen konnte. Dieses Heim hieß Seehospiz, es war schrecklich, kein Kontakt nach Hause. Einmal rief mein Vater an. Ich habe ihm gesagt, er solle mich da abholen, aber es ging nicht. Da hatte ich einen Weinkrampf. Körperlich misshandelt worden bin ich nicht, aber seelisch schon. Ich wollte nie wieder allein von zu Hause weg.

Zwei Jahre später musste ich mit meinem kleinen Bruder nach Norderney in ein anderes Haus für sechs Wochen. Mein Bruder hatte schreckliches Heimweh. Wir haben darüber noch nie geredet, wird wohl mal Zeit, es zu tun. Danke an Radio Hochstift, dass ihr dieses dunkle Thema aufgegriffen habt."

Stefanie aus Brakel wurde 1984 verschickt - ebenfalls nach Norderney:

"1984 war ich gerade acht Jahre alt. Schon länger muss ich Luftprobleme gehabt haben - zudem war ich viel zu dünn, sodass mein Arzt mich damals zu einer Kur nach Norderney ins Kaiserin-Friedrich-Hospiz schicken ließ. Ich war zu der Zeit ein noch fröhlich offenes Kind (erst später wurde ich stiller), stellte Fragen und erzählte meine Version zur Welt. Erst bei der Ankunft bekam ich Panik, erst jetzt verstand ich, dass ich irgendwo war - allein. Schon bei der ersten Untersuchung wurde ich fixiert, von drei  Schwestern und dem Arzt für die erste Untersuchung inkl. Blutentnahme. Am Anfang weint man und schreit „Nein bitte“ oder „Ich will nach meiner Mama“. Irgendwie zerbricht es dann, und man lässt es über sich ergehen. Genau hier verlor das offene Mädchen ihre Stimme für die Welt da draußen. Danach waren alle Untersuchungen während des Aufenthaltes ohne Gegenwehr.

Donnerstags war der Telefontag. Alle Kinder saßen im Pyjama auf dem Flur. Es wurden Lieder angestimmt, wie „Weisst du wieviel Sternlein stehen“ oder „Spannenlanger Hans, Nudeldicke Dirn“ und noch einige mehr. Wir sollten laut mitsingen. Heute weiß ich wie perfide der Plan ausgearbeitet war. So hatten die Eltern zu Hause den Eindruck, im Hintergrund erklingen Kindergesänge, wie schön es dort sein muss. Wir wurden einzeln hineingerufen, drinnen warteten der Arzt und ein paar Schwestern. Im Arztzimmer stand das Telefon. Ab und zu öffnete sich die Tür und man zerrte ein schreiendes weinendes Kind heraus. Mir wurde gesagt: "Wir rufen nun deine Mutter an, und möchten, dass du ihr erzählst wie schön es hier ist, dass wir am Strand waren, sonst macht sie sich Sorgen". Ich nickte. Schwere legte sich in meinen Hals, ich bekam den Hörer. Am anderen Ende meine Mutter freudig und ich hier... kurze knappe Antworten brachte ich heraus, weil meine Stimme drohte weinerlich zu klingen, immer wieder schluckte ich die Tränen hinunter in den fünf Minuten und gab nur ein kurzes "schön" und "ja" von mir.

Aufgrund der nicht stattfindenden gesundheitlichen Verbesserung wurden bei mir aus sechs Wochen Kur ganze vier Monate Aufenthalt. Dieses offene achtjährige Mädchen von damals, hat über 30 Jahre das Schweigen gelebt, es freut mich so sehr, dass die Medien dieser Stille endlich ein Gehör geben."

Elke hat jahrelang in Brakel gelebt. Sie wurde als sechsjähriges Mädchen 1963 nach Bad Sooden-Allendorf verschickt:

"Leide seit Jahren an KPTBS, Borderline und einer schweren Angststörung mit Panikattacken. Viele Klinikaufenthalte und Therapien seit 40 Jahren. Dies habe ich zum größten Teil meinem Elternhaus zugeschrieben, dort hatte ich die ersten 14 Jahre viel Missbrauch erlebt. Hatte aber auch das Gefühl, da muss es noch was geben.

Ich kann mich auch erinnern, dass wir einmal in der Woche zu zweit in eine große hohe Holzwanne mit Salzwasser gesteckt wurden. Ich konnte kaum über den Rand gucken und das Wasser ging bis zum Kinn. Habe immer Angst gehabt da drin. Auch der Geschmack von Salzwasser verursacht mir heute noch Übelkeit.

Gut, dass endlich Bewegung in die Aufklärung dieser Missstände kommt."

Für die Paderbornerin Monika ging es Anfang der 1970er-Jahre als Verschickungskind nach Bayern:

"Eigentlich habe ich gedacht, ich habe mit diesem Thema abgeschlossen und in eine ganz weit entfernte Schublade gepackt und verschlossen, aber nachdem ich hier die Berichte gelesen habe, die teilweise ja noch viel schlimmer waren, als meine Erfahrungen, wurde alles wieder aufgewühlt. 1971 wurde ich im Alter von acht Jahren ins Kloster Wessobrunn nach Bayern über Ostern für sechs Wochen zur „Erholung“ geschickt. Ich hatte es immer wieder mit den Bronchien. Geführt und regiert wurde es von Nonnen. Während der Mittagszeit (ruhen im Bett) und in der Nacht durften wir nicht zur Toilette. Ein Töpfchen für den Notfall stand im Raum. Aber wer setzt sich schon auf einen Topf, wo 20 bis 30 andere zugucken. Beim Essen durfte nicht geredet werden.

Einmal, nach dem Sport bei warmem Wetter, hatten wir Durst und tranken aus dem Wasserhahn. Danach mussten die, die sie erwischt hatten, ihren Kuchen (und der war sehr trocken) und das Abendbrot ohne Getränk zu sich nehmen. Und man war erst fertig, wenn der Teller leer war.

Ein Osterpaket von meiner Patentante wurde geöffnet, der Brief vorgelesen und der Inhalt an alle Kinder verteilt. Ich glaube, ich habe nichts davon bekommen und kam mir wie ein Schwerverbrecher vor, weil ich ein Paket zu Ostern bekommen habe.

Sechs Wochen waren unendlich. Woran ich mich erinnere, ist, dass unter den Kindern ein guter Zusammenhalt war und das war auch das, was mich durchhalten ließ.

Fazit: Meine Kinder, obwohl erst nach diesen Jahren geboren, gingen nicht alleine ins Krankenhaus, sondern nur in meiner Begleitung und Kur ging nur über ambulante Vorsorgekur. Was anderes kam für mich nicht in Frage. Und auch für mich wäre eine Reha der Albtraum, ich hoffe, ich werde nie eine brauchen."

Sonja aus Beverungen wurde 1970 nach Winterberg verschickt:

"Damals, 1970, war ich acht Jahre alt und wurde nach Winterberg ins St. Ursula verschickt. Es wurde von Nonnen geleitet.

Meine Eltern kauften mir damals warme Sachen zum Anziehen, es war ja strenger Winter zu der Zeit. Diese durfte ich aber nicht während des Aufenthalts dort anziehen, wenn wir Wanderungen unternahmen. Meine nicht gefütterten Gummistiefel mussten ausreichen, denn die neuen Sachen waren nur für Hin- und Rückreise erlaubt. Resultat: verfrorene Zehen.

Wir mussten auch alles essen, was auf den Tisch kam und so lange sitzen bleiben bis alle Teller leer waren. Wenn geredet wurde, bekamen wir einen Nachschlag. Meine Tischnachbarin musste ihr Erbrochenes auch wieder aufessen. Sie tat mir so leid, denn sie saß den ganzen Nachmittag noch am Tisch.

Dass zu meinen Erfahrungen von Verschickungskindern. Danke, dass Sie über dieses Thema berichten."

Im gleichen Haus in Winterberg war, im Sommer 1972 oder 1973, auch Petra aus Leopoldshöhe:

"Bis heute verfolgen mich die Erinnerungen an kollektive Bestrafungen der Gruppe, weil ein Bettnässer ins Bett gemacht hatte. Auch das Essen müssen (!) von Dingen, die man nicht essen konnte mit späterem Erbrechen kann ich bestätigen. Ich wurde nachts in ein großes, dunkles Bad eingeschlossen, weil ich vor Heimweh geweint habe.

Wir mussten demütigende Spiele über uns ergehen lassen. Pakete der Eltern wurden geöffnet und der Inhalt ungefragt verteilt. 

Erst ein schwerer Unfall hat meine Tortur dort nach drei Wochen beendet, durch den ich heute noch Folgeschäden habe. Ich war damals sechs Jahre alt."


Auch der Erlebnisbericht von Elke aus Berlin hat uns erreicht. Sie wurde mehrfach verschickt - einmal, im Jahr 1968, auch in die Nähe des Hochstifts, nach Bad Pyrmont.

"Es gibt viele schlimme Erinnerungen, obwohl ich noch so klein/jung war. Ich dachte immer: nur mir ging es so. Aber nach all den Berichten, bin ich wohl nicht die Einzige.

Mit fünf Jahren wurde ich 1966 in einen Zug mit einer Dampflok für sechs Wochen in den Schwarzwald, Schluchsee Kinderheim Lindenhof, verschickt. Weil ich zu dünn war. Ich war ganz allein.  Zum Mittagschlaf wurden alle Kinder so eng in Laken eingeschnürt, dass man sich nicht mehr bewegen konnte. Hat jemand ins Bett gemacht, gab es Schläge und man wurde furchtbar beschimpft.

Ich war sehr einsam dort, trotz der vielen Kinder und ich hatte großes Heimweh. Es sind viele Tränen geflossen.

Wieder zu Hause fühlte ich mich ungeliebt, unwohl und unsicher.

Ich habe sogar noch die Karten aus der Kinderverschickung. Ich wurde im Februar 1968 nach Bad Pyrmont ins Kinderheim Sonnenhof verschickt und im Juli 1970, diesmal mit meinem Bruder, nach Ohmenhausen. Dort waren wir mit 13 Kindern in einem Zimmer. Steht auf der Karte, die ich meinen Eltern geschrieben habe.

Zeit heilt alle Wunden, aber einige heilen nie."

Mit vier Jahren ging es 1958 für Regine nach Königsfeld in den Schwarzwald. Später ging es dann noch nach Königsstein in den Taunus. Regine lebt heute in Olpe.

"Ich war vier Jahre alt als ich von meinen Eltern mit meinem dreijährigen Bruder drei Wochen nach Königsfeld in den Schwarzwald geschickt wurde. Wir waren nicht krank, unsere Eltern wollte ohne uns Urlaub machen.

Wir wurden sofort getrennt. Die Toiletten wurden nachts geschlossen. Zum Morgengruß der „Tante“ im Bett am nächsten Morgen gehörte der wortlose Griff in den Schritt. Wenn man sich eingenässt hatte, gab es einen lauten gehässigen Schrei, der den ganzen Schlafsaal weckte. Nackt musste ich in den großen Badesaal gehen, wo schon andere nackte Kinder standen. Da wurde dann wieder darauf hingewiesen: “Regine hat heute Nacht ins Bett gemacht.“ Wir wurden abgeduscht und mussten nass und nackt in den Schlafsaal laufen und uns ins Bett legen, um da trocken zu werden.

Als ich sechs und mein Bruder fünf Jahre war, wurden wir nach Königsstein im Taunus geschickt – auch drei Wochen lang. Wir mussten jeden Tag stundenlang spazieren gehen. Weil ich oft trödelte, wurde ich mit einer Liegekur bestraft: Drei Tage im Schlafanzug ohne Beschäftigung im Bett bleiben, alleine, denn alle anderen waren wandern.

Hoffentlich erreicht ihr etwas."

Auch Elke aus Mönchengladbach hat sich bei uns gemeldet. Sie wurde 1961 mit knapp vier Jahren für sechs Monate nach Norderney verschickt. Sie hat uns einen Brief zur Verfügung gestellt, der während dieser Zeit an ihre Eltern geschickt wurde. Ihr findet ihn unter den Zitaten.

"Meine Gefühle aus dieser Zeit: Kalt. Laut. Viele Kinder. Geschrei. Weinen. Abschied. Fremde Menschen. Entsetzen. Angst. Panik. Schmerz. Erstarrung. Ich denke, in dieser Starre habe ich die sechsmonatige Trennung von meiner Familie überlebt."

"Aus dieser Zeit sind mit noch Gerüche sehr präsent. Holzdielen im Nassbereich ekeln mich."

"Meine Verlustängste überdauern Jahrzehnte."



Auch die freie Autorin Anja Röhl hat sich mit dem Thema der Verschickungskinder beschäftigt - ihr Buch "Das Elend der Verschickungskinder" ist seit Januar 2021 erhältlich.


Hilfe & Hoffnung für Verschickungskinder

Mittlerweile organisieren sich die betroffenen Verschickungskinder immer stärker untereinander. In NRW organisiert Detlef Lichtrauter als Landeskoordinator die Initiative Verschickungskinder. Unter verschickungskind(at)t-online.de könnt ihr ihn kontaktieren. Mehr Infos findet ihr auch auf www.verschickungsheime.org


Ihr wollt uns eure Geschichte erzählen? Gerne! Bitte per Mail an tobias.fenneker(at)radiohochstift.de