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Selina Hare
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Übergriffe in Hochstift-Kitas

Wochenlang haben wir Gespräche mit Erzieherinnen und Erziehern, mit Kita-Leitungen, mit sonstigem Kita-Personal, mit Kita-Trägern, mit Jugendämtern und mit Eltern im Hochstift geführt. Wir haben verstanden, dass unsere Recherche (insbesondere unter Erzieherinnen und Erziehern) erwartungsgemäß nicht nur Euphorie ausgelöst hat. Es gab Ängste, Sorgen und den Vorwurf der mangelnden Kompetenz in unsere Richtung.

Auf der anderen Seite haben wir Anrufe, Mails und Briefe erhalten, in denen sich Kita-Leitungen, Erzieherinnen und Erzieher und Eltern bei uns ausdrücklich bedankt haben, dass wir dieses Thema aufgreifen. Etwa 40 mal wurde allein unser extra bereitgestelltes Formular mit inhaltlich wertvollem Feedback ausgefüllt - zum Teil anonym.

Auf dieser Seite versuchen wir, mit stellvertretenden Beispielen möglichst viele Aspekte dieses sensiblen Themas zu beleuchten. Wir zeigen: Auch in Hochstift-Kitas gibt es Fälle von Gewalt gegen Kindern - es ist kein exklusives Problem von Großstädten oder sozialen Brennpunkten. Wir zeigen aber auch: Es gibt viele Kitas in unseren beiden Kreisen Paderborn und Höxter, die diesem Problem mit vorbildlichem Verhalten begegnen.


"Mir wurde gedroht, mich zu verklagen, wenn ich mit jemandem außer den beteiligten Personen über die Vorfälle spreche." (Erzieherin aus dem Hochstift)


Was ist mit Gewalt gemeint?

Die Organisation UNICEF formuliert es so: "Gewalt gegen Kinder kann bereits dort beginnen, wo kindliche Grundbedürfnisse wie Respekt, Sicherheit, körperliche Unversehrtheit und emotionale und soziale Unterstützung nicht erfüllt werden." Unter anderem die Bundesärztekammer unterscheidet folgende Formen von Gewalt an Kindern:

Körperliche Gewalt

Körperliche Gewalt

"Misshandlungen, die zu körperlichen oder seelischen Schäden des Kindes führen oder das Risiko dafür bergen."

Sexuelle Gewalt

Sexuelle Gewalt

"In der wissenschaftlichen Literatur werden für sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen unterschiedliche Definitionen und Kriterien genannt. Im Leitfaden wird sexuelle Gewalt als sexuelle Handlung definiert, die an oder vor einem Kind bzw. Jugendlichen entweder gegen dessen Willen vorgenommen wird oder der das Kind bzw. der Jugendliche aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann."

Vernachlässigung

Vernachlässigung

"Vernachlässigung ist die wiederholte oder andauernde Unterlassung fürsorglichen Handelns durch sorgeverantwortliche Personen (Eltern oder andere autorisierte Betreuungspersonen), das zur Sicherung der seelischen und körperlichen Bedürfnisse des Kindes bzw. Jugendlichen notwendig wäre."

Seelische Gewalt

Seelische Gewalt

"Unter den Begriff „seelische Misshandlung“ sind Haltungen, Äußerungen und Handlungen von Bezugspersonen zu fassen, welche das Kind bzw. den Jugendlichen überfordern und ihm das Gefühl von Ablehnung und eigener Wertlosigkeit vermitteln, die das Kind in zynischer oder auch sadistischer Weise herabsetzen oder das Kind bedrohen und terrorisieren." (Schwerwiegende Ablehnung, mit Angst terrorisieren, isolieren, mobben)


Das sind eure Erfahrungen

Ja, es gibt auch in Hochstift-Kitas Gewalt gegen Kinder. Erzieherinnen und Erzieher aus unseren beiden Kreisen haben uns viel erzählt, geschrieben und konkrete Beispiele geliefert. Etwa 80 Prozent dieser Erzieherinnen und Erzieher bestätigten auf Nachfrage, dass sie in den vergangenen Jahren Übergriffe von Kolleginnen und Kollegen gegen Kinder in Kitas gesehen oder mitbekommen haben.

Immer wieder wurde auf die mangelhafte Personallage in den Kitas hingewiesen. Radio Hochstift-Redakteurinnen und Redakteure haben Teile der Erfahrungsberichte nachgesprochen, um die Anonymität der Erzieherinnen und Erzieher und Einrichtungen zu gewähren. Wir haben den Wortlaut absichtlich nicht verändert.


"Wenn das ADHS-Kind die Schere vom Basteltisch wirft und jemanden fast trifft, ist es vorbei mit der Geduld. Man packt es am Arm und setzt es (nicht sanft) auf einen Stuhl. Leise ist man da auch nicht." (Erzieherin aus dem Hochstift)


Die Lage im Kreis Paderborn

Im Kreis Paderborn gibt es zwei Jugendämter. Das Jugendamt der Stadt Paderborn ist für sämtliche 88 Kitas zuständig, die im Stadtgebiet und den Paderborner Ortsteilen liegen. Das Jugendamt des Kreises Paderborn ist wiederum für alle weiteren Kindertageseinrichtungen im Kreis Paderborn zuständig. Dies sind 102 Kitas in neun Kommunen.

Kreis Paderborn

Zum Kindergartenjahr 2023/2024 waren in diesen 102 Kitas exakt 7.119 Kinder von 0 Jahren bis zum Schuleintritt angemeldet. Das Jugendamt des Kreises Paderborn hat für Radio Hochstift die Meldungen nach §47 für die Jahre 2022 und 2023 ausgewertet:
 


Der Kreis Paderborn hat uns auch erklärt, was sich hinter diesen Zahlen konkret verbirgt: Im Jahr 2022 wurde dem Kreisjugendamt unter anderem gemeldet, dass ein Kind von einer Erzieherin ins Gesicht geschlagen worden sei (Fehlverhalten von Mitarbeitenden). Ein Elternteil beschwerte sich, dass ein Kind auf einem Ausflug von einer fremden Person belästigt worden sei (Massive Beschwerde).

Im Jahr 2023 erzählte unter anderem ein Kind zuhause, dass es von einer Erzieherin geschlagen worden sei. Ein anderes Kind soll sich ohne Aufsicht auf einer Schnellstraße befunden haben (Fehlverhalten von Mitarbeitenden). Durch einen Großbrand in Rheda-Wiedenbrück legte sich ein Aschefilm über die Stadt Delbrück und Teile der Stadt Paderborn. Bis zur Auswertung der Proben sperrte die Stadt Delbrück die Außenflächen der Kitas (betriebsgefährdende und katastrophenähnliche Ereignisse).


Stadt Paderborn

Die 88 Kitas, die im Zuständigkeitsgebiet des Jugendamtes der Stadt Paderborn liegen, wurden zum Stichtag 01.12.2023 von exakt 5.899 Kindern besucht. 2.768 Kinder besuchen eine städtische Kita, 1.500 eine katholische Einrichtung, 1.250 Kinder gehen in Kitas von freien Initiativen, 381 Kinder wiederum besuchen eine Kita, die die evangelische Kirche als Träger hat.
 


In den vergangenen Jahren lagen die §47-Meldungen aus den Kitas im Zuständigkeitsgebiet des Jugendamtes der Stadt Paderborn konstant im niedrigen einstelligen Bereich. 2019 waren es fünf, 2020 vier, 2021 sechs, 2022 drei und 2023 fünf Meldungen. In insgesamt acht Fällen ging es um Fehlverhalten von Mitarbeitenden, in 15 Fällen um grenzverletzendes/übergriffiges Verhalten unter Kindern. Die Meldungen kamen überwiegend von Erzieherinnen und Kita-Leitungen.

Und was passiert dann?

Laut der Stadt Paderborn spricht der Träger nach einer Meldung mit allen Beteiligten, "protokolliert dieses und sendet es an das Stadtjugendamt und das Landesjugendamt". "Die jeweiligen Schritte werden mit dem LWL abgestimmt, in Einzelfällen kann dieses zu Freistellungen der Mitarbeitenden" führen.


Fachwissen in RH-Sondersendung

„Eltern vertrauen uns das Wertvollste an, was sie haben: Ihr Kind. Wir müssen eine Umgebung schaffen, in der Kinder und Familien sicher sind. Aber wir müssen auch in die Lage versetzt werden, das zu ermöglichen.“ (Barbara Nolte, Kita-Leiterin aus Hövelhof)


Inmitten unserer beiden Thementage Gewalt in Kitas diskutierten wir viele Aspekte auch in einer einstündigen Sondersendung. Hierzu begrüßten wir Barbara Nolte und Norika Creuzmann. Die Bad Lippspringerin Creuzmann sitzt für die Grünen im NRW-Landtag, die Hövelhoferin Nolte ist Referentin im Verband Bildung und Erziehung (VBE). Außerdem ist die 61-Jährige seit 1987 Leitung einer Kita in Hövelhof.

Hier könnt ihr die gesamte Sondersendung nachhören:

 


Die prägnantesten Aussagen von Barbara Nolte und Norika Creuzmann aus der Sondersendung könnt ihr hier auch nochmal nachlesen.


Das LWL-Landesjugendamt Westfalen

§47-Meldungen

§47-Meldungen

Laut Sozialgesetzbuch (SGB) "haben Träger von betriebserlaubnispflichtigen Einrichtungen dem Landesjugendamt verschiedene Ereignisse zu melden". Sie sind also unter anderem verpflichtet "Ereignisse oder Entwicklungen anzuzeigen, die geeignet sind, das Wohl der Kinder und Jugendlichen zu beeinträchtigen oder den Betrieb der Einrichtung zu gefährden". 

Die meldepflichtigen Ereignisse sind unter §47 im SGB verankert - deshalb wird umgangssprachlich von den 47er-Meldungen gesprochen.

Meldepflichtige Ereignisse

Meldepflichtige Ereignisse

Beispiele für meldepflichtige Ereignisse sind:

  • Fehlverhalten von Mitarbeitenden
  • Straftaten bzw. Strafverfolgung von Mitarbeitenden
  • besonders schwere Unfälle von Kindern
  • massive Beschwerden
  • strukturelle und personelle Rahmenbedingungen
  • betriebsgefährdende und katastrophenähnliche Ereignisse
  • grenzverletzendes/übergriffiges Verhalten unter Kindern

Zuständigkeiten

Zuständigkeiten

Zuständig für die Einrichtungen im Hochstift ist das Landesjugendamt Westfalen, das beim LWL in Münster angesiedelt ist. Dieses gibt die Grundlagen heraus, wie die Kitas mit den 47er-Meldungen umgehen sollen - dafür erscheint immer wieder eine aktualisierte Handreichung.


Das LWL-Landesjugendamt Westfalen hat für Radio Hochstift Zahlen zusammengestellt, die zeigen, wie die Meldungen im eigenen Zuständigkeitsgebiet im Vergleich deutlich steigen. Wichtig: Diese Zahlen beziehen sich auf sämtliche Kitas, die im Zuständigkeitsgebiet des Landesjugendamtes Westfalen liegen. Eine noch detailliertere Aufschlüsselung (nur für das Hochstift) sei "nicht zu leisten".
 


Das Landesjugendamt erklärt zur Tabelle ergänzend: "Die Landesjugendämter erfassen statistisch die Meldungen des Trägers. Von der Anzahl der Meldungen zu Ereignissen, die geeignet sind, das Wohl der Kinder zu gefährden, kann nicht direkt darauf geschlossen werden, wie viele Ereignisse tatsächlich in den Einrichtungen das Kindeswohl gefährdet haben. Jede Meldung wird von den Fachkräften der Landesjugendämter geprüft und der Träger wird beraten. Die Bearbeitung wird einzelfallbezogen in den Einrichtungsakten dokumentiert. Das Prüfergebnis, die Beratungsinhalte, als auch die rechtlichen Konsequenzen werden nicht statistisch erfasst."

Das Thema der steigenden Zahlen im Bereich Kindeswohlgefährdungen (auch in Kitas) beschäftigt im Sommer 2023 auch den NRW-Landtag. Der lippische Landtagsabgeordnete Dennis Maelzer verlangte Antworten von der Landesregierung.
 


"Die Kinder werden schon lange nicht mehr gefördert sondern verwahrt. Einige Kinder kenne ich eigentlich gar nicht." (Erzieherin aus dem Hochstift)


Eine Mutter erzählt

Stellvertretend für viele Eltern, die sich bei uns gemeldet haben, spricht diese Mutter aus dem Kreis Paderborn. Sie erzählt von ihren Erfahrungen in einer Kita im Kreis Paderborn. Ihren Namen und den Namen der Kita nennen wir bewusst nicht.

"Bestrafung durch unbegleiteten Ausschluss aus der Gruppe. Das Kind saß mehrere Minuten allein auf dem Flur und wurde am Ende nochmal von der Erzieherin angemault, es könne jetzt wieder in die Gruppe gehen, wenn es sich abgeregt hätte." (Elternteil aus dem Kreis Paderborn)

"Besonders beobachte ich immer mehr Eltern, die ihren Kindern überhaupt keine Grenzen oder Respekt anderen gegenüber mehr beibringen. Die Kinder können machen und sich benehmen wie sie wollen." (Erzieherin aus dem Hochstift)


Die Lage im Kreis Höxter

Im Kreis Höxter sind aktuell 4.732 Kinder in 84 Kitas/Kindergärten angemeldet. Für alle Kindertageseinrichtungen ist das Jugendamt des Kreises Höxter zuständig.

Im Jahr 2023 gab es, laut des Kreis-Jugendamtes, drei Meldungen nach §47 zu betriebsgefährdenden Ereignissen, vier Meldungen zu möglichem Grenzverletzenden Verhalten unter Kindern und 44 Meldungen zu einer Personellen Unterbesetzung. Meldungen bzgl. Fehlverhalten von Mitarbeitenden habe es im gesamten Jahr 2023 aus keiner Kita gegeben.

Alle weiteren Fragen, die wir dem Kreis Höxter zu dieser Thematik gestellt haben, ließ die Behörde unbeantwortet. "Zuständig sei das Landesjugendamt."


"Ich war schon in drei Einrichtungen, wo ich miterlebt habe, dass einzelne Kinder bevorzugt und andere ebenso auffällig zurückgestuft oder beleidigt werden. Überforderte KollegInnen haben lauthals geschimpft/geschrien." (Erzieherin aus dem Hochstift)


Anke Ballmann klärt auf über psychische Gewalt

 

Anke Ballmann ist Psychologin, Pädagogin und Buchautorin. Mit Werken wie Seelenprügel oder Worte wie Pfeile macht sie aufmerksam auf das Thema psychische Gewalt in Kitas. Sie sagt: Personalmangel ist keine Ausrede dafür, Kinder schlecht zu behandeln. Wie es trotz der katastrophalen Lage in Deutschlands Kitas besser geht, erarbeitet sie in Fortbildungen zusammen mit Kitas und dem dazugehörigen Personal. Radio Hochstift hat mit ihr gesprochen.
 

Was ist psychische Gewalt?


„Fast alle Kinder erleben psychische Gewalt in fast allen Kitas. Und häufig auch zu Hause. Mein Thema sind aber nicht die Eltern, sondern die Kitas. Und da [beim Thema psychische Gewalt] zählen so Dinge dazu, dass ein Kind beschämt wird. Dass es vor die Tür gesetzt wird. Dass es nicht getröstet wird, wenn es weint. Das nennt sich Versagen des emotionalen Echos..."

Das ganze Interview mit Anke Ballmann lesen.


Selbstreflexion, Schulungen, QM: Eine Kita mit Vorbildcharakter


"Der Kinderschutz hat höchste Priorität in Form eines Schutzkonzeptes, einer Selbstverpflichtungserklärung, eines Qualitätsmanagements, vorgeschriebener Präventionsschulungen und Fortbildungen. Ganz entscheidend ist die Haltung aller Beteiligten und besonders der Leitung, die die Verantwortung dafür trägt, wie offen im Team Überforderungen angesprochen werden oder wie es um Fehlerfreundlichkeit steht."

Dieses Zitat stammt von Nicola Auge. Die 44-Jährige ist Leiterin der Kita St. Raphael in Brakel-Erkeln. Aus unserer Sicht eine Kita mit Vorbildcharakter. Alle Mitarbeitenden der Einrichtung haben sich laut Nicola Auge darauf verständigt, offen mit dem Thema Gewalt gegen Kinder umzugehen. "Ich finde es wichtig, dass es auch im Team immer wieder angesprochen wird. Das Wichtigste ist der offene Umgang miteinander", so Auge im RH-Interview.
 

Kita-Leiterin Nicola Auge


Nicola Auge sagt im RH-Gespräch auch: "In Personalmangelsituationen muss transparent und verantwortungsvoll gehandelt werden und dann können leider nicht immer alle Kinder betreut werden. Solche Situationen dürfen nie als Erklärungen oder Ausreden für physische oder psychische Gewalt angeführt werden!" Damit stimmt sie auch mit den Aussagen der Psychologin Anke Ballmann überein.


Das komplette Interview von Radio Hochstift-Redakteur Tobias Fenneker mit Nicola Auge könnt ihr euch hier anhören:



Fortbildungsangebote für Träger und Kita-Leitungen

Selbstverständlich ist die Kita St. Raphael aus Brakel-Erkeln nicht die einzige Kindertageseinrichtung im Hochstift, die vorbildlich arbeitet. Das Jugendamt des Kreises Paderborn hat uns beispielsweise eine Liste erarbeitet, welche Fortbildungen für Träger und Kita-Leitungen schon durchgeführt wurden bzw. noch werden, um das Wissen in die Kitas zu transportieren. Wir stellen sie euch an dieser Stelle zur Verfügung.


"Es ist enorm wichtig, MitarbeiterInnen immer wieder zu sensibilisieren. Haltungen zu diskutieren, zu reflektieren und Standards zu vereinbaren. Das Schutzkonzept, die Risiko- und Strukturanalyse und der Verhaltenskodex werden jedes Jahr reflektiert." (Kita-Leitung aus dem Hochstift)


Das (unkontrollierte) individuelle Schutzkonzept

Ein Baustein, um die Kinder in den Kitas vor Gewalt zu schützen, ist das sogenannte individuelle Gewaltschutzkonzept. Das Landesjugendamt des LWL schreibt auf unsere Anfrage:

"Seit der SGB VIII Reform durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz im Jahr 2021 sind die Träger in der Pflicht, Gewaltschutzkonzepte zu entwickeln, anzuwenden und zu überprüfen. Auf diese Verpflichtung wurden die Träger von Kindertageseinrichtungen per Rundschreiben des LWL-Landesjugendamtes ausdrücklich hingewiesen."

Die Träger sollen die Konzepte überprüfen? Vom Kreis Paderborn heißt es dagegen:

"Die Vorlage von Konzepten ist ein Baustein zur Erfüllung der Vorgaben für die Betriebserlaubnis, die vom Landesjugendamt gestellt wird. Dieses vereinbart mit den einzelnen Kitas/Trägern die Frist, bis wann welche Dinge vorzulegen sind und überprüft diese auch."

 


Und weiter heißt es vom Landesjugendamt des LWL:

"Bei Beantragung/Veränderung einer Betriebserlaubnis sowie bei Meldungen von Ereignissen, die geeignet sind das Kindeswohl zu gefährden, müssen Träger von Tageseinrichtungen auf Aufforderung Konzepte zum Schutz vor Gewalt vorlegen. Aus der oben beschriebenen Vorgehensweise resultiert, dass keine Übersicht des Umsetzungsstands über alle Kindertageseinrichtungen - auch nicht konkret im Kreis Paderborn oder im Kreis Höxter - geführt wird."

Im Umkehrschluss bedeutet diese Formulierung also auch: Alle Kitas, die die Betriebserlaubnis vor 2021 hatten, müssen das Konzept dem Landesjugendamt nicht aktiv vorlegen.

Die Stadt Paderborn erklärt auf unsere Anfrage, dass ein "trägerinternes Schutzkonzept in Bearbeitung ist". "Die einzelnen Einrichtungen formulieren ihr individuelles Schutzkonzept und fügen es ihrer Konzeption an." Auf unsere Frage, was mit den Einrichtungen passiere, die bislang kein Gewaltschutzkonzept vorgelegt hätten, erklärt die Stadt Paderborn: "Die Einrichtungen reichen das an den LWL nach. Alle Einrichtungen sind in der Überarbeitung ihrer Konzepte."

Drei Jahre nach der Gesetzesreform scheint den angefragten Behörden also unklar zu sein, wie viele Kitas im eigenen Zuständigkeitsgebiet überhaupt ein individuelles Schutzkonzept erarbeitet haben. Eine Kontrolle, auch hinsichtlich der inhaltlichen Qualität der Konzepte, scheint es kaum zu geben. Konsequenzen brauchen die Kitas deshalb wohl auch nicht fürchten.

Ein Beispiel, wie ein ausgearbeitetes Schutzkonzept einer Einrichtung aussehen kann, hat uns die Paderborner Kita Spielraum zur Verfügung gestellt. Träger der Kita ist der Verein Westfälisches Kinderdorf. Wir veröffentlichen es an dieser Stelle, damit ihr euch einen noch besseren Eindruck verschaffen könnt. 


"Ein Kind wollte nicht essen. Eine Kollegin nahm ihm den Stuhl weg und ließ es vor dem Essen stehen. Alle Kinder durften nach draußen gehen - dieses Kind nicht. Das Ganze dauerte fast zwei Stunden. Keiner hat was gesagt, weil die Erzieherin hoch angesehen war." (Erzieherin aus dem Hochstift)


Ein Kommentar zur Recherche

"Sagen, was ist" - dieses berühmte Zitat aus dem Journalismus wird immer wieder gerne herausgekramt. In dieser Recherche haben wir ErzieherInnen, Eltern und Kita-Leitungen genau darum gebeten. Wir sind begeistert, wie viele Beteiligte das ernsthafte Gespräch mit uns zu diesem Thema gesucht haben. Wir konnten auch die Sorgen der ErzieherInnen im Vorfeld der Veröffentlichung nachvollziehen, mit einer Berichterstattung dieser Art an den Pranger gestellt zu werden.

"Da müssen Sie sehr vorsichtig sein"

Einige Reaktionen ließen uns während der Recherche aber auch irritiert zurück: Mehrfach wurde uns anonym mitgeteilt, dass wir doch "die zuständigen Behörden diese Arbeit machen lassen sollten". Unsere Recherche sei "widerlichstes Denunziantentum". Auch Behörden-Mitarbeitende ließen uns beiläufig wissen, dass die Recherche "für viel Wirbel im Haus sorgen würde". Von anderer Seite erhielten wir den Ratschlag, "sehr vorsichtig sein zu müssen".

Als wir eine Mail an alle Kitas im Hochstift mit dem Hinweis auf unsere Recherche verschickten antwortete plötzlich eine Kommune als Kita-Träger, dass es zu diesem Thema "keine Rückmeldung der städtischen Kitas" geben werde. Die Zuständigkeit für Fragen zu diesem Thema liege schließlich beim Kreisjugendamt.

Keine Meldung = keine Vorfälle?

Ein unbequemes Thema, zu dem lieber geschwiegen werden soll? Aus unserer Sicht (wie so häufig) der falsche Weg. Wie kann es sein, dass mehr als 80% der Erzieherinnen und Erzieher mit denen wir gesprochen haben, in den vergangenen Jahren Gewalt in Kitas erlebt/gesehen/mitbekommen haben und die Zahl der offiziellen Meldungen weiter niedrig ist? Wie kann es sein, dass all diese Erzieherinnen und Erziehern die Vorfälle aus Angst, Scham oder Unwissenheit nicht melden? Fakt ist: Es gibt wohl eine riesige Diskrepanz zwischen den erfolgten Übergriffen und den gemeldeten Vorfällen.

Nur durch Transparenz lässt sich das Tabu brechen. Egal, ob ErzieherInnen, Kita-Leitungen, Träger, Behörden und Eltern: Alle Beteiligten sollten das Thema offensiv angehen, um die Zahl der Gewaltausbrüche in Kitas zu minimieren. Es geht schließlich um unsere Kinder. (Tobias Fenneker, Radio Hochstift-Redakteur)


Kita-Probleme Thema in bundesweiten Medien

Auch landes- und bundesweit wird das Thema Gewalt in Kitas bzw. Personalmangel und die Folgen von Medien aufgegriffen. Wenn ihr also Lust habt, euch weiter mit dem Thema zu beschäftigen und einen Blick über das Hochstift hinaus haben möchtet, empfehlen wir euch zwei Recherchen:

Claudia Gürkov und Christiane Hawranek haben für den Bayrischen Rundfunk monatelang zum Thema von Gewalt in Kindertagesstätten in Bayern recherchiert. Das Ergebnis, das die Redakteurinnen unter Tatort Kita veröffentlicht haben, ist beachtlich.

Eine bundesweite Recherche zum Kitanotstand in Deutschland veröffentlichte wiederum das Recherchenetzwerk Correctiv.Lokal unter Projektleitung von Jonathan Sachse. Sie zeigten auf, wie häufig Kitas bspw. einzelne Gruppen oder die gesamte Einrichtung schließen müssen und was die Folgen davon sind.


Rückmeldungen, Empfehlungen und Angebote

Während und nach der Veröffentlichung dieses Schwerpunktthemas habt ihr uns angerufen, uns Mails geschickt und uns über Social Media Feedback gegeben. Das freut uns sehr - insbesondere weil sich Eltern, Erzieherinnen, Kita-Leitungen und externe ExpertInnen gemeldet haben. Nachfolgend findet ihr Ausschnitte einiger Rückmeldungen, die uns erreicht haben. Und wir geben Hinweise weiter, die auch für Kita-Mitarbeitende, Kita-Leitungen und Träger interessant sein könnten:
 

"Vielen vielen Dank, dass ihr dieses Thema aufgreift. [...] Ich möchte auf den Fachtag zur gewaltfreien Kindheit am 29. und 30. April in Berlin aufmerksam machen." (Marion Tönges, Erzieherin, Bad Wünnenberg-Bleiwäsche)

"Wir haben Ihren Beitrag zu Gewalt in Kitas gesehen und möchten uns dafür bedanken, dass Sie den Schutz von Kindern vor Gewalt im Radio sowie online öffentlich thematisieren. [...] Seit einigen Jahren arbeiten wir als eine der größten Kinderrechtsorganisationen Europas u.a. mit Kitas deutschlandweit zusammen und entwickeln mit ihnen ein individuelles Schutzkonzept. TrainerInnen begleiten die Mitarbeitenden der Kitas sowie die Eltern bei der Entwicklung des Kinderschutzkonzeptes." (Kindernothilfe e.V., Duisburg)

"Ihr Bericht über die Vorfälle in Kitas macht mich sehr nachdenklich. Das Verhalten einiger ErzieherInnen muss aufgedeckt werden. Trotzdem habe ich Bedenken, dass Eltern jetzt skeptisch werden und Misstrauen gegenüber 'ihrer' Kita und 'ihren' ErzieherInnen aufbauen." (Diana, Erzieherin, Paderborn)

"Ich habe auch einige Erfahrungen gemacht: So wurde zum Beispiel der Hochstuhl mit meiner gerade einjährigen Tochter umgedreht, mit dem Blick nach draußen und ihr somit die Teilhabe am Gruppengeschehen verwehrt." (Inga)

"Danke für die Veröffentlichung! Ein sehr sensibles Thema und interessante Reaktionen. Ich möchte Frau Auge zustimmen. Die offene Fehlerkultur und das offene Ohr für jeden Mitarbeitenden ist sehr wichtig." (Stefanie E., Einrichtungsleitung aus dem Hochstift)

"Es stellen sich mir die Nackenhaare hoch, wenn ich mir euren Beitrag Gewalt in Kitas anschaue. Es ist leider die traurige Wahrheit." (Jeanette)

"Das (die Sondersendung, Anm. d. Red.) war informativ und gut gerade im Radio. Vielen Dank dafür! Wir wollen in der Erziehungspatenschaft zusammen mit den Eltern Gutes für die Kinder, doch machen es die Rahmenbedingungen manchmal nicht leicht." (Martina L., Erzieherin, Delbrück-Westenholz)

"Ich kann auch etwas erzählen: Mein Sohn wurde von 9.30-12 Uhr mit nicht geschlossener Hose im Umkleidebereich stehen gelassen. Um 12 Uhr habe ich ihn weinend vorgefunden." (Anke, Mutter)

"Eine tolle Recherche! Genau das verändert ja meistens etwas, wenn Menschen anfangen, über Dinge zu sprechen." (Christoph Z., Vater, Paderborn)

"Die wenigsten MitarbeiterInnen haben die Kraft für eine Meldung an das Jugendamt. Fraglich ist auch das Endergebnis. Die Hinweisgeber riskieren alles und sind am Schluss womöglich die Verlierer. Also flüchten sie, mit schlechtem Gewissen, aus der unerträglichen Situation." (Martin W.)

"Ich bin geschockt und fühle mit den Mamas, die ihr Kind nicht ruhigen Gewissens in der Kita abgeben können. Für uns enden im Sommer vier tolle Kindergartenjahre. Trotz ständiger Unterbesetzung geben die Erzieherinnen wirklich alles, sind empathisch und liebevoll zu den Kindern." (Daniela, Mutter, Büren)

"Ich finde es super, dass ihr das Thema bearbeitet. Das Interview mit der Kinderpsychologin ist klasse." (Irina Z., Mutter, Paderborn)

"Der Sohn meines Bruders wurde in der Kita auch als 'schwierig' abgestempelt. Er wünscht sich mittlerweile selbst "eine neue Kita"." (Daniel W., Vater)

"Ich möchte mich bedanken, dass Sie so ehrlich, sensibel und in keinsterlei Weise unangemessen über das Thema berichtet haben. Wir fühlten uns zum ersten Mal wahrgenommen." (Julia B., Mutter)


Feedback

Ihr habt Fragen/Kritik/Anregungen zum Projekt Gewalt in Kitas? Meldet euch gerne bei Tobias Fenneker oder Sinah Jakobsmeyer.